Die vergessene Kunst des Atems
Nichts ist essentieller für die ganzheitliche Gesundheit und das lebenslange Wohlbefinden als der Atem. Doch viele Menschen haben verlernt, wie man richtig atmet. Wer richtig atmet ist dem Leben näher, kann sich besser fokussieren und selbstbewusster sein.
Wieso soll ich denn richtig atmen lernen?
Diese Fragen, die Sie sich vielleicht auch stellen, begegnet mir immer wieder seit meiner vertieften Auseinandersetzung mit dem Atem. Denn in der Lehre des Yogas kommt man am Atem nicht vorbei. Die Lehre des Atems ist ein essenzieller Bestandteil jeder effektiven Yogapraxis und deren Wirkungsweise.
Viele Menschen nehmen einfach an, atmen sei eine passive Tätigkeit - etwas, das einfach zum Leben gehört. Etwas, dass nicht veränderbar sei. Ein Aspekt dessen Rhythmus und Qualität nicht erneuert und weiterentwickelt werden kann. Die Grundlage der Sichtweise beruht auf dem einen Aspekt: "Solange der Mensch atmet, lebt er; wenn der Mensch aufhört zu atmen, stirbt er."
Atmen ist jedoch nicht binär. Je mehr ich mich mit der Thematik des Atems befasse, desto mehr wird mir bewusst, dass ich die grundlegenden Erkenntnisse meiner Recherchen, meiner Auseinandersetzung mit dem Atem und meinen Erfahrungen mit dem Atem in der täglichen Yogapraxis gerne weitervermitteln möchte.
Das ganze Geheimnis des Lebens steckt in der Atmung.
Verborgener Lebenshauch
Um den Atem zu transportieren, muss das Einatmen voll sein. Wenn es voll ist, hat es grosse Kapazität. Wenn es grosse Kapazität hat, kann es ausgedehnt werden. Wenn es ausgedehnt ist, kann es nach unten dringen. Wenn es nach unten dringt, wird es still zur Ruhe kommen. Wenn es still zur Ruhe gekommen ist, wird es stark und fest. Wenn es stark und fest ist, wird es keimen. Wenn es keimt, wird es wachsen. Wenn es wächst, wird es sich nach oben zurückziehen. Wenn es sich nach oben zurückzieht, wird es den Scheitel erreichen. Die geheime Macht der Vorsehung bewegt sich oben. Die geheime Macht der Erde bewegt sich unten.
Wer dies befolgt, wird leben. Wer dagegen verstösst, wird sterben.
Atemkraft
Flamingos erheben sich springend über ihre Füsse in die Weite des offenen Raumes. Inspirierend und beeindruckend zugleich folgen sie dem Rhythmus der universellen Lebensenergie.
Folgt auch der Mensch bewusst atmend dieser Lebensenergie erhöht er allmählich seine Lebenskraft und öffnet der universellen Energieform den Raum.
Die Atemenergie benötige eine innere Entspannung auf allen Ebenen, um tief und frei fliessen zu können. Wird dieser Raum geöffnet, kann der Atem vielfach eine positive Wirkung auf das ganzheitliche System, den gesamten Organismus, das Nervensystem und den Bewegungsapparat haben.
Die Konzepte des Yoga haben schon seit vielen Jahrhunderten die Kraft des Atems und den Zusammenhang von Körper, Atem und Geist ins Zentrum ihrer Praxislehre gestellt.
Lebensatem
Prana wird als Lebensatem oder Lebenshauch übersetzt und bedeutet im Hinduismus und in der Yogalehre Leben, Lebenskraft oder Lebensenergie. In der tibetischen Tradition wird Prana als Lung bezeichnet, im alten China ist Prana vergleichbar mit Qi und in Japan mit Ki.
In den philosophischen Schriften des Hinduismus und Buddhismus wird der Urkraft Prana ein elementarer Aspekt geschenkt. Dabei spielt im Yoga die Energie von Prana eine bedeutende Rolle zur Realisierung der innewohnenden Natur im Menschen.
In den Schriften der Upanishaden steht die Lehre des Atems in einem engen Zusammenhang mit Atman, der Seele. Die Urenergie Prana nährt jedes Leben, ist jedoch nicht Atman oder das individuelle Selbst. In der Kaushitaki-Upanishad steht beispielsweise geschrieben:
Ich bin der Atem (prana). Als den aus Erkennen bestehenden Atman, als Leben, als Unsterblichkeit verehre mich. Der Atem ist Leben und das Leben ist Atem.
Denn solange der Atem in diesem Körper weilt, solange weilt auch das Leben.
Im Raja Yoga dienen die Atemübungen oder Pranayamas der Vereinigung von Körper und Geist. Prana ist jedoch weit aus mehr als nur Atem, Luft oder Sauerstoff. Im Yoga wird das Arbeiten mit der Atmung als Zugang zur Realisierung des Prana als bewusste Manifestation im Körper verstanden. Der Atemlehre im Yoga zufolge zirkuliert Prana im Körper durch ein feinstoffliches System von Kanälen oder Nadis.
In der tibetischen Yogatradition spielt die Lehre des Atems, als eines der Grundelemente des Yogas, eine bedeutende Rolle. In der tantrischen Übungspraxis werden die verschiedenen Atemtechniken genutzt, um der Übungspraxis eine effektive Wirkung zu schenken. Zielführend durchdringt die Energieform Lung das gesamte Sein.
Einatmen - ausatmen
Im alltäglichen Leben verweilt die Wahrnehmung eher im Aussen, wobei die vertraute Sicherheit und die Routine das Leben prägen. Dabei wird die Aussenwelt gerne so kontrolliert, dass Komfortzonen und Sicherheit entstehen und Unangenehmes und Leiden vermieden oder ausgeschlossen werden. Doch der kontrollierte und sicherheitsgesteuerte Lebensplan lässt wenig Raum für das Erkennen der Kraft des Atems und dessen Spiritualität.
Die wahren Menschen holen den Atem von den Fersen herauf, die gewöhnlichen Menschen atmen nur mit der Kehle.
Das achtsame Erleben des Atems im gegenwärtigen Augenblick kann einen wesentlichen spirituellen Aspekt erfahrbar machen. Der Atem wird nicht gemacht, er geschieht einfach. Sich auf den natürlichen Fluss und Rhythmus der Atembewegungen einzulassen, bittet den Raum den Atem bewusst zu erfahren. Aus dieser Bewusstheit entsteht und entwickelt sich ein natürlicher Bezug zur Spiritualität. Um der spirituellen Energie des Atems zu begegnen, kann mit einfachen Atemübungen begonnen werden.
Atme ein - Atme aus
Atme ein, atme aus und begegne der Natürlichkeit des Atems.
Atme durch die beiden Nasenöffnungen tief ein.
Atme durch den Mund aus und lass los.
Atem ein und fühle die Leichtigkeit des Atems.
Atme aus und lass alle störenden Emotionen und Gefühle los.
Atme ein und fühle die Schönheit des Atemrhythmus.
Atme aus und sei frei!
Die einfache Atemübung verbunden mit einer mentalen verbindenden Ausrichtung auf den Atem kann mehr emotionale und mentale Klarheit und innere Stabilität aufbauen. Sich frei atmen und wie ein Flamingo in den weiten Raum erheben.
Spiritueller Atemweg
Die Reise zurück zur spirituellen Kraft des Atems beginnt mit jedem bewussten Innehalten und Verbinden mit der Energie des Prana. Die Inspiration zur Rückkehr liegt in der weisen Aussage von Zhuang Zhou. Der Weg zur Erkenntnis der spirituellen Kraft des Atems führt in die unmittelbare Verbindung mit Prana, der nährenden Lebensenergie.
Die Einladung zur Erfahrung der Pranakraft beginnt mit dem ersten Schritt: einatmen und ausatmen bis tief in die Fusssohlen. Um tiefer in die Lebensenergie einzutauchen wird der Atem einatmend aus den Fusssohlen geführt und und ausatmend zurück in die Fusssohlen gelenkt.
Gleich den Flamingos folgt der mensch so dem ursprünglichen Rhythmus der Lebensenergie Prana.
Atemkontrolle gibt dem Menschen Stärke, Vitalität, Inspiration und magische Kräfte.