Wabi Sabi lehrt die Wertschätzung

Erst die Unperfektheit macht uns einzigartig, erst die Einzigartigkeit verleiht uns Schönheit. Wabi Sabi zelebriert die schlichte Schönheit in der Unvollkommenheit und der Vergänglichkeit in allen Aspekten der Natur.

Wabi Sabi - die Schönheit der Vergänglichkeit

Eine alte japanische Tradition lehrt die Philosophie des Wabi Sabi, ein grundlegendes Konzept der Wahrnehmung der schlichten Schönheit der Vergänglichkeit. Wabi Sabi ist in Japan seit Jahrhunderten eine philosophische Tradition, die in jedem Aspekt der Unvollkommenheit der Natur eine einzigartige Schönheit findet.

Wabi-Sabi hat seinen Ursprung im Zen-Buddhismus und beschäftigt sich mit der Ästhetik der Einfachheit und Unvollkommenheit. Übersetzt bedeutet Wabi so viel wie einsam, verlassen und traurig. Sabi wird mit Patina gleichgesetzt, steht aber auch für Alter, Vergänglichkeit und Gebrauchtsein.

Wabi Sabi erkennt in jedem Aspekt der Unvollkommenheit in der Natur die einzigartige Schönheit. Die Ästhetik der Dinge, die als unvollkommen, unbeständig und unvollständig erscheinen, werden in ihrer Natürlichkeit als Schönheit erkannt.

  • Wabi Sabi Japan

Die einzigartige Erfahrung des Augenblicks

«Es ist ein dunkler Dezemberabend in Kyoto, der alten Hauptstadt Japans. Ich bin durch die Dunkelheit zu Shören-in geradelt, einem kleinen Tempel jenseits der Touristenpfade am Fusse der Higashiyama-Berge. Heute Abend sind die Tempelgärten sanft beleuchtet, und das schwache Licht spinnt geheimnisvolle Fäden über die schemenhaften Kiefern und schimärischen Bambushaine.

Ich streife meine Schuhe ab und trete ein auf einen Boden, der achthundert Jahre lang von schlurfenden Schritten und raschelnden Gewändern auf Hochglanz poliert worden ist. Die breiten, mit dem Alter fleckigen und dunkel gewordenen Holzdielen stammen aus dem kaiserlichen Palast. Ich nehme auf der hinten ringsherum laufenden Veranda Platz, die Zehen taub vor Kälte, der Atem sichtbar vor meinem Gesicht.

Der Duft von Räucherstäbchen erfüllt die Luft. Er riecht wie die Farbe Purpur, auf eine Art und Weise, die ich nicht erklären kann. Winzige, über den Garten verstreute Lichter gehen an und wieder aus, eintausend im Gleichklang atmende Sterne. Nur zehn Minuten von hier brodelt das Vergnügungsviertel Gion mit der Energie aufgeregter Touristen, betrunkener Geschäftsmänner und gefälliger Geishas. Doch hier, eine enge, abschüssige Strasse am östlichen Stadtrand hinauf, habe ich die Stille gefunden.

Droben späht der Mond aus Chenille durch die Bäume, wirft seinen silbernen Zauber über den Teich. Hinabgefallene Blätter ziehen über die Oberfläche hinweg, während Koi-Karpfen durch das drunterliegende milchige Gewässer schleichen. In einer Woche werden die Zweige vieler dieser Bäume kahl sein. In einem Monat vielleicht schon schneebedeckt.

Ich hebe ein hinabgefallenes Momiji-Blatt auf, burgunderrot und mit gekräuselten Rändern. Es ist ein Schatz, geknittert und papieren wie der Handrücken meiner Grossmutter. Mein Herz öffnet sich ein Stück weit. In diesem Augenblick habe ich alles, was ich brauche. Ich verspüre stille Zufriedenheit und einen Hauch Melancholie in dem Wissen, dass dieser flüchtige Moment niemals wiederkehren wir. Dies ist die Welt von Wabi Sabi.» Beth Kempton

Wabi Sabi ist eng verbunden mit einer innigen Beziehung zur einzigartigen und vergänglichen Schönheit der allumfassenden Natur.

Naomi King
  • Wabi Sabi Momiji

Die sanfte Natur der Japaner

Die Kultur Japans beinhaltet unterschiedliche und tiefsinnige Konzepte, die Teil der japanischen Lebensphilosophie sind. Einzigartig und interessant zugleich prägen die teilweise Jahrtausendealten Philosophieformen die Tradition und die neuzeitlichen Trends des japanischen Denkens. Dabei zelebriert die einzigartige Ideologie das Wahrnehmen und Erkennen der Schönheit und Ästhetik der Vergänglichkeit der Natur und des veränderlichen Lebensrhythmus. Wabi Sabi ist ein faszinierendes und schlichtes Konzept der japanischen Lebenskultur.

Die sanfte Natur der Japaner basiert auf dem einzigartigen Aspekt von Wabi Sabi, einer grundlegenden Weltanschauung, die die traditionelle japanische Lebensweise und die Erfahrungen des Lebens lenken. Es beinhaltet einen tiefen Blick in die schlichte Schönheit der veränderlichen Natur und deren Wertschätzung und Anerkennung.

Der Ausdruck Wabi Sabi wurde im 16. Jahrhundert von Sen no Rikyū, dem japanischen Tee- und Zenmeister, mit der Anerkennung der Schlichtheit tiefsinniger definiert. Die zu Grunde liegende Denkweise von Wabi Sabi war bereits im japanischen Mittelalter, ab dem 12. Jahrhundert, verbreitet. Bereits im japanischen Altertum finden sich einige Ansätze, die in der traditionellen Denkweise auf Wabi Sabi hindeuten.

Sen no Rikyū war eine bedeutende Persönlichkeit der japanischen Sengokuzeit und hatte einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung der japanischen Teezeremonie. Rikyū vereinigte Aspekte des täglichen Lebens mit spirituellen und philosophischen Denkweisen zu einer tiefsinnigen Lebensphilosophie. Er war ein Mensch mit einem kultivierten und disziplinierten Lebensstil in Bescheidenheit und Wertschätzung. Diese Einfachheit und Schlichtheit definierte die Jahrhundertealte Teetradition Japans neu und betonte das Ideal der schlichten Schönheit. Der aussergewöhnliche Sinn für Schönheit des japanischen Meisters Rikyū hatte auch einen prägenden Einfluss auf die Keramik, die Architektur sowie auf unzählige Künste und Kunsthandwerke, die mit der Teetradition verbunden sind.

Wabi Sabi beinhaltet die Schönheit der schlichten Optik, die sich im Verlauf von Nutzung und Abnutzung offenbart.

Die Wertschätzung der Vergänglichkeit

Die innewohnende Natur von Wabi Sabi drückt eine Geisteshaltung aus, die von Menschlichkeit, Einfachheit und Wertschätzung geprägt ist und die schlichte, vergängliche Schönheit in Dankbarkeit geniessen lässt.

In der philosophischen Ausrichtung von Wabi Sabi steht der Aspekt der Unvollkommenheit und Vergänglichkeit aller Aspekte der Natur im Mittelpunkt. Die Ästhetik der Dinge, die unvollkommen, unbeständig und unvollständig sind, wird in die philosophischen Denkweise integriert.

Diese philosophische Denkweise lässt sich auf die drei buddhistischen Daseinsaspekte zurückführen. Ein Konzept oder eine Ideologie, die sich auf die buddhistische Lehre der drei Existenzmerkmale, Vergänglichkeit - mujō, Leiden - ku und Leere oder Abwesenheit von Selbstnatur - kū, bezieht. Eine schlichte Denkweise, das Natürliche und Reine in all seinen Facetten und seiner ureigenen Form anzuerkennen und das Herz für die vergänglichen Aspekte zu öffnen. Jeder Augenblick wird aufs Neue achtsam betrachtet und der Veränderlichkeit aller Dinge das Tor der Erkenntnis geöffnet.

Die künstliche Schönheit und Perfektion wird dabei bewusst in den Hintergrund gerückt, denn sie verzerrt den wahren Sinn der vergänglichen Existenz aller Dinge. Die japanische Erkenntnislehre Wabi Sabi für ein perfekt umperfektes Dasein lehrt die Wertschätzung und die Dankbarkeit für die bewusste Wahrnehmung des Augenblicks und das Loslassen der Vergangenheit.

Die zwei Aspekte Wabi und Sabi sind für die japanische Tradition und Kultur von Bedeutung. In zwei Ausdrücken hat Wabi Sabi seinen Ursprung, die beide von ästhetischen Werten geprägt sind und ihre Quelle in Kultur, Literatur und Religion haben.

Wabi Sabi zu leben, bedeutet ohne Anhaftung und ohne Widerstand gegen das, was einfach geschieht, zu leben.

Was beinhaltet Wabi?

Wabi definiert das Entdecken der natürlichen Schönheit im Schlichten. Wabi bedeutet übersetzt gedämpfter, zurückhaltender Geschmack. Ursprünglich stammt das Wort vom Verb «wabiru» ab, sich sorgen, sich nach etwas verzehren, sowie vom Adjektiv «wabishii» elend, einsam, arm, und besitzt damit einen Bezug zu Armut, Unzulänglichkeit und Verzweiflung. Mit der Teezeremonie von Sen no Rikyū nahm Wabi die Bedeutung vom ästhetischen wert des Schlichten an.

Die Schönheit von Wabi liegt ästhetisch betrachtet in einer verborgenen Dunkelheit, die majestätische Schönheit inmitten der herausfordernden Lebensrealität. Das Zitat des buddhistischen Priesters Kenko versinnbildlicht die tiefe Weisheit von Wabi: «Sollten wir die Frühlingsblüten nur betrachten, wenn sie in voller Blüte stehen und den Mond nur, wenn er wolkenlos und klar zu sehen ist? Schönheit lässt sich nicht nur im Fröhlichen, im Lauten und im Offenkundigen finden.»

Wabi stellt das Gefühl dar, das durch das Erkennen und Wertschätzen der Schönheit in der Schlichtheit entsteht. Eine stille von Herzen kommende Zufriedenheit, die sich fernab der materialistischen Welt erfahren lässt. Schlussendlich ist Wabi eine innere Geisteshaltung die Schlichtheit, Bescheidenheit und Wertschätzung als Pfad zu innerer Ruhe und Zufriedenheit darstellt. Die wertschätzende Dankbarkeit für die vergänglichen Schönheiten des veränderlichen Lebens.

Was beschreibt Sabi?

Sabi symbolisert den Lauf der Dinge im geschehen lassen. Sabi bedeutet Patina, antikes Aussehen, geschmackvolle Schlichtheit. Das japanische Schriftzeichen lässt sich auch mit Stille übersetzen. Das Adjektiv «sabishii» kosnotiert verlassen, einsam oder alleine. Das Verb «sabiru» bedeutet rosten, vergehen oder Altersspuren zeigen und fügt Sabi eine weitere tiefgründige Nuance bei.

Sabi ist ein Aspekt, den die Vergänglichkeit der Zeit gestaltet und nicht von Menschenhand kreiert ist. Eine Ausdrucksform der Eleganz des Alters und eine einzigartige Schönheit, die sich im Verlauf von Nutzung und Abnutzung offenbart. Der Autor Jun`ichiro Tanizaki hat niedergeschrieben wie die Japaner das Schöne in Sabi entdecken: «Wir besitzen keineswegs eine Abneigung gegen alles, was glänzt, jedoch ziehen wir den besinnlichen Schimmer dem geistlosen Leuchten vor, das düstere Licht, das den Schein des Antiken erkennen lässt. Wir lieben Dinge, welche Spuren von Schmutz, Russ und Witterung aufweisen. Und wir lieben die Farben und den Glanz, welcher die Vergangenheit ins Gedächtnis rufen, die wir geschaffen hat.»

Sabi deutet auf die tiefere Erkenntnis dessen was hinter der Oberfläche des jeweiligen Gegenstands verborgen liegt. Es symbolisiert die Unbeständigkeit von Allem, die oft von Trauer und Melancholie geprägt ist, während über die Vergänglichkeit des Lebens nachgedacht wird. Die Ausdrucksform von Sabi erinnert an die Schönheit des natürlichen Kreislauf des Lebens und die eigene Sterblichkeit.

Wenn ein Objekt oder ein Ausdruck in uns ein Gefühl der tiefen Melancholie und eines spirituellen Sehnens hervorruft, dann kann man sagen, dieses Objekt oder dieser Ausdruck sei Wabi-Sabi.

Andrew Juniper
  • Wabi Sabi Tempel am Wasser

Wabi Sabi lehrt die Wertschätzung

Die beiden Aspekte von Wabi und Sabi sind für die japanische Kultur und Tradition von Bedeutung. In diesen zwei Begriffen hat Wabi Sabi seinen Ursprung und liegt verborgen in den traditionellen Herzen der japanischen Menschen. Ein wundervoller Ausdruck einer sanftmütigen Fähigkeit in allem den Lauf der Dinge zu erkennen und zu wertschätzen.

Wabi Sabi lenkt die Aufmerksamkeit auf das Werden und Vergehen in allem. Der Prozess der Vergänglichkeit findet die innere Schönheit im Unvollendeten, in der Unvollkommenheit und im Flüchtigen. Die melancholische und traurige Stimmung eines trüben Regentags, die Patina auf den kupfernen Tempeldächern, die Lachfalten im wettergegerbten Gesicht eines Reisbauern, die bewusste Verlangsamung im Lebensrhythmus eines Menschen, das alles ist Wabi Sabi.

Wabi Sabi ist die Akzeptanz und Wertschätzung des vergänglichen und unvollkommenen Wesens allen Seins.

Artikel im YOGA! Das Magazin

Im japanischen Weisheitssystem legt Wabi Sabi die Schönheit der Vergänglichkeit dar und erkennt die einzigartige Schönheit des natürlichen Zyklus der Unvollkommenheit.

Naomi King Yogalehrerin Meditationslehrerin und Achtsamkeitscoach
Naomi King

Der erste Schritt mit Yoga, Meditation und Achtsamkeit beginnt mit der inneren, fokussierten Ausrichtung: «Niemand kann die Brücke bauen, auf der ich über den Fluss des Lebens schreite, niemand ausser ich selbst.»