Atemtechniken der tibetischen Yogatradition
Die Lehre des Atems, als ein Grundpfeiler des Yogas, spielt in der tibetischen Yogatradition eine bedeutende Rolle. In der tantrischen Übungspraxis werden verschiedene Atemtechniken angewandt, um der Praxis einen nachhaltigen Effekt zu schenken. Zielführend wird die Energieform Lung das gesamte Sein durchdringen.
Lung - die Atemenergie
In der tibetischen Yogatradition spielt die Lehre des Atems eine entscheidende Rolle, um der tantrische Übungspraxis einen zielführenden Erfolg zu schenken. Vorbereitende Atemreinigungstechniken reinigen die zwei Atemkanäle, damit der Atemfluss entspannt und vertieft werden kann. Die Atemhaltung und Atemlenkung basiert auf dem gereinigten Atemsystem, damit Lung in das feinstoffliche Nadisystem fliesst. In der Yogapraxis von Lu Jong, Tsa Lung und Tummo Yoga, den tantrischen Yogastilrichtungen, wird der gereinigte und vertiefte Lung genutzt, um die Natur des Geistes zu realisieren.
Prana oder tibetisch Lung - tibetische Atemtechniken
Die bereichernde Reise durch die tibetische Atemlehre mit ihren verschiedenen Techniken, wie den schnüffelnden Fuchs, der dreifache Atemrhythmus, die neunfache Atemreinigung, die Vasenatmung und die Methoden der Atemkontrolle und -haltung, entschlüsseln das einzigartige Geheimnis der Lebensenergie Prana oder tibetisch Lung. Das höchste Ziel der Atemlehre ist die Vereinigung und das Einssein mit Prana oder Lung.
Denn wie könnte der Yogi oder die Yogini Vollkommenheit erlangen,
wenn die innere Form und das Geheimnis von Prana oder Lung
nicht erkannt und vollkommen entfaltet ist.
Die Schule des Atems
Dem menschlichen Körper wird im tibetischen Yoga eine einmalige Wertschätzung beigemessen. Er wird als Mikrokosmos verehrt, indem sich Rhythmus und Ordnung des Universums widerspiegeln. Der Körper wird durch die geheimnisvolle Lebensenergie Lung beseelt und durch diese Atemkraft genährt. Das Wissen um diese biochemische und elektrische Lebensenergie Lung besteht in der tibetischen Praxis seit Jahrtausenden. Die Lehre des Atems, als ein Grundpfeiler des Yogas, spielt eine grosse Rolle, um der tantrischen Übungspraxis einen nachhaltigen und effektiven Erfolg zu schenken. Zielführend wird die Energieform Lung das gesamte Sein neu beleben, vitalisieren und durchdringen.
Die Atemkraft als innere Medizin
Die Urkraft Lung wird in der Yoga- und Meditationspraxis als innere Medizin oder Selbstgenesungsenergie genutzt, um das feinstoffliche Nadisystem zu vitalisieren und durchdringen. Dabei wird dem alten abgestandenen und verbrauchten Atem, der im System zirkuliert oder verdichtet an einer Stelle verweilt, Beachtung geschenkt. Dieser alte Atem ist mitverantwortlich für das Entstehen von Beschwerden und Erkrankungen. Er verhindert auch die Weiterentwicklung und Realisation der inneren Kräfte. Die Atemlehre als Gesamtheit ist die Basis zur beständigen Erneuerung und Erweiterung der zirkulierenden Lebensenergie Lung, die stetig tiefer in das feinstoffliche Energienetz geführt wird. Durch diese Bewusstheit und Nutzung der Atemenergie wird der lichtvolle Energiekörper oder Regenbogenkörper schrittweise aufgebaut und realisiert.
Die Natur als Bild der Lehre
In der Schönheit und Feinheit der Natur finden die tibetischen Yogis und Yoginis die Lehre des Yogas und der Lebensenergie Lung. Denn die Natur macht wunderbar sichtbar was unter einem gut funktionierenden ganzheitlichen System zu verstehen ist. Aus dem Zentrum bis in die äussersten Spitzen wirkt und belebt die innere Energieform Lung die Gesamtheit des Wesens. Auch durchdringt Lung das gesamte feinstoffliche Nadisystem, wenn alle Kanäle rein, klar und durchlässig sind.
Die mannigfachen Atemtechniken der tibetischen Yogatradition haben zum Ziel das gesamte feinstoffliche Netz zu reinigen, zu stärken und in seiner reinsten Form zu kultivieren. Lung zirkuliert im gesamten feingliedrigen System über die feinsten Knotenpunkte bis in die äussersten Spitzen.
Tantrische Übungspraxis
In der tantrischen Übungspraxis befasst sich der Übende ein Leben lang mit den Kräften und Energien der kosmischen Urkraft Prana oder Lung.
Die Reinigung, Regulation und der Aufbau der Atemenergie ist neben allen anderen Yogagrundlagen der tantrischen Übungspraxis ein elementarer Aspekt. Dabei werden Körper, Atem und Geist in eine transformierende Einheit des universellen Bewusstseins geführt. Alle drei Aspekte werden durch die Praxis der Achtsamkeit und der fokussierten Bewusstheit aufeinander abgestimmt und miteinander zu einem grossen Ganzen vereint.
Der feinstoffliche Energiekörper
Im Zentrum der tibetischen Atemtechniken steht der feinstoffliche Energiekörper mit all seinen Energiezentren oder Chakren und dem Netz der Nadis, die sich wie ein zusammenhängendes Netz über den gesamten Energiekörper ziehen. Dieses feinstoffliche Nadisystem wird durch Lung, die allumfassende Energieform, durchdrungen. Verschiedene Haupt- und Nebenwindformen, die in unterschiedlichen Energiezentren ihren Sitz haben, durchströmen das System der Nadis.
Acht Stufen der Atemlehre
Die Atemlehre beinhaltet einen kontinuierlichen Prozess, der die unmittelbare Erfahrung und Vereinigung mit der allesdurchdringenden Lebensenergie hat. Die Atemschulung wird über verschiedene aufbauende Stufen Schritt für Schritt bis zur Vollendung der Vereinigung mit der universellen Energieform geführt. Dabei ist der Weg in acht Stufen unterteilt und aufgebaut:
- Atemachtsamkeit
- Vorbereitende Atemtechniken
- Atemgleichgewicht
- Atemreinigungstechniken
- Atemaufbautechniken
- Atemhaltung und Atemkontrolle
- Atemlenkung
- Atembewusstsein
Atemachtsamkeit
In der Atemarbeit wird die Achtsamkeit für alle innewohnenden Aspekte der Atmung geschult. Achtsamkeit verbindet in seiner vollendeten Form mit der universellen Kraft, dem Atemrhythmus, der Atemqualität und den natürlichen universellen Prozessen der Atmung. Auch liegt der Fokus als Startpunkt der Lehre auf dem Verständnis der Nasenatmung. Die Nasenatmung gleicht dem Rhythmus einer Blüte, nur wenige wissen, dass die Nasenöffnungen in einem ureigenen Rhythmus pulsieren. Sie öffnen und schliessen sich wie eine Blüte, je nach der Stimmung, dem Geisteszustand oder dem Stand von Sonne und Mond. Dieser faszinierende Rhythmus beinhaltet das grosse Geheimnis des Lebens und weiht in die tiefen Geheimnisse des Prana oder Lung ein.
Vorbereitende Atemtechniken
Vorbereitende Atemtechniken durchströmen die zwei Atemkanäle, damit die beiden Atemströme vertieft werden können. Dabei werden die Atemkanäle mit stosshaften und powervollen Ein- und Ausatmungstechniken in verschiedenen Körperhaltungen von Anspannungen und Verspannungen befreit. Dadurch werden die Atemströme in einen natürlichen und entspannten Fluss geführt.
Atemgleichgewicht
Mit sanften Atemübungen und einer fokussierten inneren Bewusstheit werden die füllenden und leerenden Atembewegungen vertieft entspannt und harmonisiert, um sie in ein stabiles, inneres Gleichgewicht zu führen. Die Ein- und Ausatmungsströme sind eigenständig, und doch bedingen sie sich gegenseitig, sonst gibt es kein Gleichgewicht und keine Vereinigung der Urkräfte.
Atemreinigungstechniken
Die Praktizierenden reinigen in jeder Praxiseinheit ihre Nadis, um sie zu schützen und zu reinigen. Dabei werden die Hauptkanäle genutzt, um über diese in das feinstoffliche Netz einzudringen. Die verschiedenen Techniken reinigen und gleichen den Atemfluss im linken und rechten Atemkanal aus. Dabei werden Anspannungen und Verspannungen auf der physischen, psychischen, mentalen, emotionalen und geistigen Ebene vermindert. Zu den wichtigsten Reinigungstechniken zählt die Neunfache Atemreinigung, sie zieht sich wie ein roter Faden durch die gesamte Übungspraxis eines Yogis oder einer Yogini.
Atemaufbautechniken
Den Raum für Lung zu vergrössern und zu erweitern wird in der Praxis der Atemaufbautechniken geübt. Eine Kombination aus Atemübungen, Reinigungstechniken, Körperübungen und Meditationen stehen dabei im Mittelpunkt der Aufbautechniken. Dieser Prozess bedingt einen klaren fokussierten Geist und die Fähigkeit den Atem kontrolliert und stabil zu führen.
Atemhaltung und Atemkontrolle
Die Atemhaltung und Atemlenkung basiert auf dem gereinigten Atemsystem, damit Lung in das feinstoffliche Nadisystem fliessen und dieses durchdringen kann. In der Yogapraxis der feinstofflichen Energien, wird der gereinigte und vertiefte Lung genutzt, um die Natur des Geistes zu realisieren.
Atemlenkung
Die hohe Kunst der Meditation und die geschulte Fähigkeit von Visualisationstechniken sind Grundlage zur bewussten Atemlenkung. Der Atem wird wie in einem Gefäss tief und lang angehalten und fokussiert kontrolliert. Dabei verbindet sich der Praktizierende mit seinem klaren Geist und der Lung Energie und lenkt diese gezielt durch das feinstoffliche Nadisystem.
Atembewusstsein
Der Yogi oder die Yogini schaffen über die meditative und reine Versenkung eine komplette Verbindung mit dem Atem und verschmelzen mit dem innewohnenden Bewusstsein der allumfassenden Lebensenergie Prana oder Lung.
Wo Aussen und Innen gleich, ist Wissens Unendlichkeit,
wo Schatten und Licht identisch, ist der Weisheit Unendlichkeit.
Milarepa – tibetischer Yogi
Die Inspiration und Bereicherung der natürlichen Prozesse in der Natur werden in den achtstufigen Weg der Atemlehre integriert. Sie sind der Schlüssel, um das Wissen der geheimnisvollen Lebensenergie Prana oder Lung zu entschleiern. Der Yogi oder die Yogini werden zum Gefäss und zu Prana oder Lung selbst.
Prana
Der Artikel wurde von Naomi King für den Kongress der Europäischen Yogaunion in Zinal geschrieben.